Gemeinschaft will gelernt sein: Schön, dass du hier beim zweiten Teil angekommen bist 😀 … den es übrigens auch als Audio-Aufnahme gibt.
Hier geht’s zum ersten Teil… in dem es um Erwachsenwerden, Werte, „Toleranz“ und Kommunikation ging.
Jetzt geht’s weiter mit folgenden Themen:
6. Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen bewusst gestalten
7. Bewusster Umgang mit Hierarchie und Macht
8. Führung und Quellenprinzipien
9. Praxis
6. Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen bewusst gestalten
Viele Gemeinschaften wollen einen herrschaftsfreien Raum schaffen. Das heißt, alle sollen sich bei Entscheidungen einbringen können, und alle sollen gleichwertig gehört werden, egal ob jemand leise oder laut, Mann oder Frau oder anders geschlechtsidentifiziert, dick oder dünn oder sonstwas ist.
Einfache Mehrheitsabstimmungen sind damit also keine wirklich geeignete Option. Denn dabei entstehen Minderheiten, die sich nicht gehört fühlen, und das schafft schwelende Konflikte, die Gemeinschaften leicht zersetzen können.
Wie kann es also anders gehen?
Viele Gemeinschaften praktizieren Entscheidungen im Konsens.
Das heißt: Ein Vorschlag wird so lange diskutiert und so oft verändert, bis alle Einwände und schweren Bedenken ausgeräumt sind. So können dann alle mit einer Entscheidung mitgehen, oder zumindest beiseite stehen, ohne aktiv dagegen zu sein.
So können keine Entscheidungen getroffen werden, bei denen Menschen geschädigt oder ignoriert werden – zumindest nicht, ohne sich zu überlegen, wie der entstehende Schaden so ausbalanciert wird, dass die betroffenen Menschen einverstanden sind.
Manchmal kommt es dazu, dass eine oder zwei Personen eine Entscheidung durch ein Veto blockieren. Wenn das aus rein egoistischen oder emotionalen Gründen geschieht, kann das Groll hervorrufen und zersetzend wirken. Um das zu verhindern, gibt es verschiedene Möglichkeiten: Beispielsweise können Gemeinschaften diese Personen verpflichten, sich bis zu einem bestimmten Datum Unterstützung zu suchen und Alternativvorschläge zu machen.
Bei Konsensentscheidungen ist sichergestellt, dass alle gehört werden – doch effizient sind sie nicht!
Wenn bei jeder Entscheidung alle mitreden wollen, geht viel Zeit verloren. Deswegen braucht es gerade bei größeren Gemeinschaften effizientere Modelle, zum Beispiel die Soziokratie oder ein Rätesystem. Hierbei wählt man kleinere Arbeitskreise oder Räte, an welche die Gemeinschaft bestimmte Entscheidungen vertrauensvoll delegiert.
Jeder Arbeitskreis entsendet dann wiederum einen Vertreter in einen Lenkungskreis bzw. Rat, der die Entscheidungen koordiniert. Bei sehr großen Gruppen kann das Rätesystem auch noch eine weitere Ebene haben.
7. Bewusster Umgang mit Hierarchie und Macht
Die eben genannten Entscheidungsstrukturen erfordern einen bewussten Umgang mit sozialem Rang und Macht. Das mag für manche unpopulär klingen; in linkspolitischen Kreisen will man Hierarchie anscheinend ganz vermeiden, und in dem Kontext kommt sogar den Spruch „Keine Macht für niemanden“ vor.
Letzteres halte ich für realitätsfern und sogar kontraproduktiv! Denn Menschen sind nun mal verschieden – manche haben nun mal andere Fähigkeiten, mehr oder weniger Mut oder Selbstbewusstsein als andere.
Das zu ignorieren, würde bedeuten, Menschen in ihrer Individualität zu missachten, und es würde bedeuten, alle miteinander in Ohnmacht verharren zu lassen. Wer würde denn so etwas wollen?!
Hierarchie und Macht sind an sich weder gut noch schlecht.
Es gibt zwei Arten der Hierarchie: Einmal die Hierarchie der Unterdrückung – also Herrschaft -, die Menschen knechtet, kontrolliert und klein hält. Da sind wir uns wohl einig, dass wir das nicht wollen.
Andererseits gibt es Hierarchien des Vertrauens, bei der Menschen Entscheidungen treffen, die möglichst fähig in ihrem Arbeitsgebiet sind und die das Vertrauen der Gemeinschaft genießen.
Genau das wird ja (optimalerweise) in der Soziokratie praktiziert, wie ich oben kurz beschrieben habe.
Auch Macht an sich ist weder gut noch schlecht.
Das Wort „Macht“ ist verwandt mit „machen“: Wer viele Fähigkeiten und Selbstvertrauen hat, und wer viele Möglichkeiten sieht und diese in die Tat umsetzt, kann mehr „machen“ als andere. So jemand hat also „Macht“. Wer viel Vertrauen von anderen genießt, hat auch einen hohen sozialen Rang, da man diesem Menschen zuhört. Auch das ist eine Form von Macht.
Das heißt: Statt die Existenz von Hierarchie und Macht zu ignorieren, ist es für Gemeinschaften wichtig, bewusst und transparent mit ihnen umzugehen.
8. Führung und Quellenprinzipien
Wenn wir schon mal beim Thema Macht sind: Das Wort „Führung“ ist ja in manchen Kreisen sehr verpönt. Leider! Denn zahlreiche Forschungen und Erfahrungen zeigen:
Gruppen, die größer als etwa drei – vier Leute sind, brauchen jemand, der/die eine gewisse Führungsverantwortung übernimmt – zumindest, wenn die Gruppe bestimmte Ergebnisse erreichen möchte. Man kann diesen Menschen Moderator(in), Koordinator(in), Gruppenleiter(in) oder sonstwie nennen. Wenn niemand diese Rolle ausfüllt, verlieren sich Gruppen leicht in Nebensächlichkeiten oder Ego-Geschichten.
Es geht hier NICHT darum, dass dieser Mensch den anderen Anweisungen geben sollte oder alles selbst machen müsste!
Seine Aufgaben sind z.B. eher:
– Menschen inspirieren und den „Spirit“ des Projekts halten,
– Die Vision und die Werte des Projekts verkörpern,
– Dafür sorgen, dass Mitgestalter bei Projekttreffen „bei der Sache bleiben“, so dass es vorangehen kann,
– Egospielchen und dominante Leute beruhigen, und stille Menschen fördern,
– Dafür sorgen, dass Mitgestalter die eigene Rolle in der Gruppe erkennen und ihren individuellen Beitrag leisten.
– Den Fortschritt bzw. die Weiterentwicklung des Projekts überwachen und dafür sorgen, dass Dinge umgesetzt werden…
Diese Aufgaben können auch wiederum zum Teil delegiert werden. Wichtig ist nur, dass es jemand gibt, der sich dafür verantwortlich fühlt.
In diesem Zusammenhang kann es für Gemeinschaften sehr interessant sein, sich mit den sogenannten Quellenprinzipien zu beschäftigen. Sie wurden von Peter Koenig zusammengetragen und sind in diesem Artikel sowie in diesem Video gut zusammengefasst. Kurz und knapp besagen diese Prinzipien: Jedes Projekt hat genau EINE Quelle – das ist der Mensch, der ein Projekt, eine Organisation oder irgendeine Beziehung beginnt. Die Quelle eines Projekts gibt dem Ganzen die Vision und den Rahmen. Damit trägt dieser Mensch eine große Verantwortung: Denn die Quelle hat den Überblick über das Projekt, erhält alle relevanten Informationen für dessen Gestaltung und kennt intuitiv den nächsten Schritt. Das heißt nicht, dass die Quelle alles selber tun oder können müsste. Erst im Austausch mit anderen Mitgestaltern (Teilquellen in ihren jeweiligen Bereichen) erlangt sie Klarheit über Entscheidungen, und mit deren Unterstützung erreichen alle die gesetzten Ziele.
Schwierig kann es werden, wenn mehrere Menschen gemeinsam ein Projekt gründen – und wenn nicht geklärt ist, wer die Quelle ist; wenn die Quelle ihre Verantwortung nicht annimmt oder wenn diese der Quelle nicht gegeben wird.
All das kommt leider ziemlich oft vor.
Dann herrscht Unklarheit, keine klare Vision kann entstehen (oder nur in einem sehr zähen Prozess…), alle reden aneinander vorbei, keiner traut sich zu führen und keiner will geführt werden… und alle fragen sich, woher ihre Unzufriedenheit stammt.
Es ist grundlegend wichtig, der Quelle diesen Raum zu geben – und dass sie sich diesen Raum auch nimmt.
Und wenn jeder beteiligte Mensch auch Verantwortung als Teilquelle für den eigenen Projektbereich übernimmt – und dafür auch den Raum bekommt – kriegt das Ganze richtig Schwung!
9. Praxis
Dazu gehören z.B. Aspekte wie Arbeitsorganisation, gemeinsame Projekte, Umgang mit Geld, Umgang mit Nachbarn, Kooperation mit anderen gesellschaftlichen Akteuren…
Das macht natürlich jede Gemeinschaft anders… dabei kommen Fragen wie diese auf:
- Wie sollen finanzielle Einnahmen generiert werden? Aus Unternehmungen Einzelner und/oder aus (einem) gemeinsam getragenen Projekt(en)? Welche anderen Quellen kommen in Frage – z.B. Fördermittel?
- Sollen Menschen extern arbeiten oder in der / für die Gemeinschaft – oder ist beides möglich?
- Soll jeder einzeln private Einnahmen haben? Kommen alle Einnahmen in einen Topf? Oder eine Mischung daraus? (Die Idee der „gemeinsamen Ökonomie“ finde ich persönlich sehr interessant und zukunftsgewandt – er setzt jedoch einige Reife voraus. Ich habe in diesem Blogartikel etwas darüber geschrieben.)
- Wie viel sollte jeder einbringen (Geld, Zeit…) ? Wie viel ist jeder in der Praxis freiwillig bereit und fähig, einzubringen? Wie wird damit umgegangen, wenn jemand seinen vereinbarten Teil nicht tut?
…und andere mehr. Solche grundlegenden Fragen sollten am besten vor der Gründung bzw. dem Kauf des Objekts geklärt werden. Später können dann immer mehr Details besprochen werden z.B. wie Kochen und Putzen organisiert wird, wie mit Besuch umgegangen wird oder welche Räume privat bzw. öffentlich sind.
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Die Gemeinschaft, wo ich seit einiger Zeit mitwirke (und die ich hier vorstelle), setzt viele der genannten Punkte ziemlich gut in die Tat um – deswegen gefällt es mir dort 🙂
Beispielsweise ist diese Gemeinschaft sehr konsequent, was die Arbeitsorganisation angeht. Die Gemeinschaft strebt Eigenwirtschaftlichkeit an, und alle Mitglieder verpflichten sich freiwillig, ihre Zeit für die Vision der Gemeinschaft einzusetzen. Einnahmen kommen von gemeinsam getragenen Betrieben und Spenden von Unterstützern. Alle Mitglieder bekommen für ihr Engagement freie Kost und Logis und zusätzlich ein Taschengeld.
Das ist also eine Art gemeinsame Ökonomie (also dass alle Einnahmen in einen Topf kommen), in der man aber nicht über jede größere private Ausgabe diskutieren muss (dieses Problem haben viele Kommunen…) sondern jeder hat Entscheidungsfreiheit über eigene zusätzliche Ausgaben.
Das fühlt sich für mich sehr stimmig an! Es setzt allerdings eine freiwillige Selbstverpflichtung („Commitment“) aller Beteiligten für gemeinsame Ziele voraus.
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Sicher gibt es noch mehr Aspekte, die man bei der Gründung von Gemeinschaften beachten könnte. Und andererseits gibt es auch genug Beispiele, wo Leute einfach losgelegt haben – ohne Plan, ohne Vision, ohne Kommunikations- oder Entscheidungsstrukturen… und dann hat es einfach so geklappt.
Für so etwas gibt es kein Rezept! 😉
Ich wünsche allen Gemeinschaftsprojekten viel Erfolg und freue mich über Rückmeldungen auf diesen Artikel 🙂
2 Antworten
wirklich sehr klar und verständlich. Das Alles Stück für Stück umzusetzen sollte ein liebevoller Prozess sein.
Dann gelingt es.
Lieben Dank siegmund von Lebensreich
Ein super Artikel, herzlichen Dank!! Er zeugt wie ich finde von Erfahrung, ist bodenständig und durch die konkreten Fragen sehr lebensnah. Sehr bereichernd für mich der ich auch oft über dieses Thema nachdenke. Weiterhin viel Erfolg mit dem Blog und liebe Grüße 🙂